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(1685 Worte)
Unternehmen im geopolitischen Spannungsfeld
1989 verkündete der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, angesichts des zerfallenden Ostblocks und dessen Führungsmacht Sowjetunion, dass scheinbare "Ende der Geschichte". Nachdem die westlichen Demokratien und der Kapitalismus als „Sieger“ aus dem Kalten Krieg hervorgegangen waren, sollten keine ernsthaften ideologischen Herausforderungen mehr existieren. Die liberale Demokratie wurde als das letzte Stadium der (geo-)politischen Entwicklung angesehen. Heute, Jahrzehnte später, stehen wir vor einer geopolitischen Zäsur. Die sich entwickelnden Dynamiken zeichnen eine völlig neue Realität, die nicht nur die sozio-politische Arena herausfordert, sondern auch erheblichen Einfluss auf die strategischen Handlungsoptionen von Unternehmen hat.
Bipolar, Multipolar oder Multiplex?
Wenn das "Ende der Geschichte"(1) noch nicht eingetreten ist, welche Richtung wird die Entwicklung der geopolitischen Ordnung dann nehmen?
- Gibt es eine Rückkehr zu einer klar strukturierten Weltordnung, die sich an das bipolare Paradigma einer ideologischen, machtpolitischen und militärischen Systemkonkurrenz des Kalten Krieges anlehnt?
- Befinden wir uns in einer multipolaren Weltordnung, in der neben den USA und China Nationen wie Indien, (Russland) und die EU erhebliche politische und wirtschaftliche Macht ausüben?
- Steuern wir auf eine vielfältige, multiplexe Weltordnung zu, in der eine breite Palette von Akteuren - darunter Staaten, supranationale Organisationen, transnationale Unternehmen und nichtstaatliche Akteure -, auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Bereichen wie Politik, Wirtschaft, Sicherheit und Technologie miteinander interagieren?(2)
Oder zeichnet sich eine doppelt gebrochene bipolare Ordnung ab, angeführt von den USA und China. (3)
Innerhalb dieses geopolitischen Rahmens halten die Mittelmächte (Mächte zweiter Ordnung) ihre Beziehungen zu den Führungsmächten so offen wie möglich, um ihren diplomatischen und wirtschaftlichen Einfluss zu maximieren. Dies zeigt sich besonders im Jahr 2023, wo Länder wie Indien, Brasilien, die Türkei und Saudi-Arabien zu den einflussreichsten geopolitischen 'Swing-Staaten' zählen und maßgebliche Auswirkungen auf die Dynamik im Zusammenhang mit dem Konflikt in der Ukraine und anderen globalen Themen haben (EY: 2023 Geostrategic Outlook).
Das Verhältnis zwischen den USA und China beeinflusst jedoch den Handlungsspielraum anderer Staaten und Akteure: Je konfrontativer es wird, desto eingeschränkter wird die Autonomie anderer Länder. Dies hat auch Auswirkungen auf Unternehmen und ihre internationalen Geschäftsbeziehungen: Unternehmen werden verstärkt staatlichen Eingriffen in ihre Lieferketten, Beschränkungen oder die Ablehnung grenzüberschreitender Investitionen, Exportkontrollen, restriktiven Handelsmaßnahmen und einer intensiveren behördlichen Überwachung gegenüberstehen.
Risikoszenarien
In der Zukunft werden Unternehmen systematisch mit dem Management geopolitischer Risiken konfrontiert sein und entsprechende Anpassungsstrategien entwickeln müssen. Gegenwärtig zeichnen sich u.a. die folgenden geopolitische Risikoszenarien ab:
Globale Konflikte
Global hat die Anzahl der Konflikte zugenommen. In den letzten acht Jahren wurden jährlich mehr als 50 staatliche Konflikte verzeichnet. Während zivile Konflikte weiterhin vorherrschen, ist im vergangenen Jahrzehnt eine zunehmende Internationalisierung (Beteiligung eines oder mehrerer Drittstaaten) zu beobachten. Diese erhöhte Unsicherheit und Komplexitaet betrifft Unternehmen in Bezug auf die physische Sicherheit ihrer Mitarbeiter, die unternehmerische Infrastruktur (Corporate Security) und die Entscheidung für eine Investition in einen bestimmten Markt.
Entwicklung der globalen Konflikte 1946 - 2022 (Quelle: PRIO Paper 2023)
Regulierung und Protektionismus
Immer mehr Staaten entwickeln Industriestrategien (z. B. Made in China 2025), die gezielt bestimmte Sektoren mit staatlicher Unterstützung, vorteilhaften regulatorischen Bedingungen und/oder Schutz vor ausländischen Investoren fördern. Dies führt oft zur Stärkung nationaler Schlüsselbereiche oder zur Betonung nationaler Interessen im Sinne eines "Tit for Tat".
Zusätzlich beeinträchtigt Protektionismus die Übertragbarkeit von Technologien. Geschäftsmodelle müssen erheblich angepasst werden, um den lokalen Anforderungen gerecht zu werden. Mit der fortschreitenden Digitalisierung in allen Industriezweigen wird dieses Problem zunehmend bedeutend, da die Möglichkeiten, Innovationen länderübergreifend anzupassen und zu skalieren, begrenzter werden.
Fragmentierung von Handel & Technologie kann bis zu 12% BIP kosten (Quelle: ICC 2023)
Lieferketten
Wertschöpfungsketten sind in hohem Maße von geopolitischen Veränderungen betroffen, und wirtschaftliche Verflechtungen können - insbesondere bei hoher Konzentration in der globalen Lieferkette - leicht als politisches Druckmittel missbraucht werden.
(Quelle: Deloitte Insights, 12/2021)
Anteil v. Staaten/EU an der Global Value Chain in % (Quelle: ICC 2023 Trade Report)
Laut einer aktuellen Umfrage (WTW 2023) betrachten mehr als ein Drittel (35 %) der befragten Unternehmen geopolitische Faktoren als maßgebliche globale Trends, die sich erheblich auf ihre Lieferkettenrisiken auswirken (in der komplexen Fertigung sind es sogar 40 %). Der Ukraine-Konflikt und die Spannungen im Chinesischen Meer könnten weitere Handelsbeschränkungen, Sanktionen und sogar Hafenblockaden zur Folge haben. Insgesamt verzeichneten geopolitische Störungen der Lieferketten im Vergleich zu 2021 einen Anstieg um 378 %.
Cyberkriminalität
Die Automatisierung von Lieferantenproduktion und -verwaltungssystemen sowie die Digitalisierung von ausgelagerten Geschäftsfunktionen erhöhen die Anzahl potenzieller Angriffspunkte und die Vulnerabilität für Cyberkriminalität. Hackergruppen (auch staatlich gelenkte, geförderte und tolerierte), haben ein besonderes Interesse an kritischer Infrastruktur und strategisch wichtigen Unternehmen als Ziele.
Cyberattacken (Diebstahl, Industriespionage, Sabotage) in DE (Quelle: Bitkom 2022)
ESG
Wertegeleitetes Wirtschaften im globalen Kontext gewinnt zunehmend an Bedeutung, wobei Wirtschaft und (geo)politische Aspekte nicht mehr voneinander getrennt betrachtet werden. Die voranschreitende ESG-Gesetzgebung und - Vorschriften, wie beispielsweise der US-amerikanische Uyghur Forced Labour Prevention Act und der deutsche Supply Chain Due Diligence Act, werden Unternehmen in der Zukunft dazu zwingen, sich intensiv mit Fragen der Umwelt, Sozialverträglichkeit und Governance auseinanderzusetzen. Verbraucher erwarten mittlerweile von Unternehmen, dass sie ethische und nachhaltige Geschäftspraktiken in allen Aspekten, einschließlich Beschaffung und Lieferketten-management, anwenden. Verstöße gegen diese Erwartungen können die Reputation des Unternehmens und seiner Marke nachhaltig schädigen.
Globale ESG-Gesetzgebungen und Initiativen (Quelle: BDO 2023)
Re-Globalisierung, De-Globalisierung oder „Slowbalization“?
Ähnlich wie die Diskussion über die neue geopolitische Weltordnung wird auch der Zustand und die Entwicklung des globalen Handels und der Wirtschaftsbeziehungen kontrovers debattiert. Die Grundprinzipien der Globalisierung (ein Begriff mit diffuser Semantik) der vergangenen Jahrzehnten, wie Handelsfreiheit, Marktoffenheit und Rechtsstaatlichkeit, werden zunehmend politisiert. Ob wir uns bereits in einem tatsächlichen De-Globalisierungsprozess befinden ("Tod der Globalisierung"), bleibt derzeit Gegenstand zahlreicher, eher spekulativer Überlegungen zu den möglichen langfristigen Konsequenzen einer solchen Entwicklung.
Zwar haben sich der Warenhandel und die Kapitalströme seit der globalen Finanzkrise von 2009 verlangsamt und ein Plateau erreicht, doch dies geschah auf einem historisch hohen Niveau ("Slowbalization"). Gleichzeitig zeigen verschiedene andere Indikatoren der Globalisierung, wie beispielsweise der Handel mit Dienstleistungen, digitale Handelsströme, grenzüberschreitende Investitionen und Migration sowie kultureller Austausch, weiterhin ein bemerkenswertes Wachstum.
Es ist offensichtlich, dass das aktuelle "turbulente Umfeld" von geopolitischen Spannungen und verschiedenen Krisen geprägt ist, was weder der Wirtschaft noch der Politik förderlich ist. Handelsstreitigkeiten, die Pandemie und der Konflikt in der Ukraine haben zu einem Anstieg protektionistischer Maßnahmen wie Subventionen, Exportkontrollen und Investitionsbeschränkungen geführt und die Fragmentierung des Handels weiter vorangetrieben.
Gleichzeitig zeichnen sich neue Handelsmuster ab, insbesondere durch entstehende Handelsabkommen (z. B. RCEP) und eine Neuordnung globale Lieferketten als Reaktion auf wirtschaftliche und geopolitische Faktoren. "Globalisierung" sollte nicht einfach als eine unveränderliche, geradlinige Abfolge von Handelsströmen und Transaktionen verstanden werden, sondern als ein sich ständig veränderndes Netzwerk von Akteuren, die täglich über nationale Grenzen hinweg Geschäftsbeziehungen unterhalten und dabei zahlreiche strategische Faktoren (wie Kosten, Qualität, Transport, Lagerung usw.), insbesondere aber die globalen politische Risiken, abwägen müssen (Re-Globalisation).
Fazit: Gegen geopolitische Risiken wappnen - Risikomanagement und die Anpassung von Geschäftsstrategien werden zu Existenzfragen
In der Vergangenheit haben viele Unternehmen geopolitische Entwicklungen oft vernachlässigt und nicht als bedeutenden Risikofaktor betrachtet. Insbesondere der Konflikt in der Ukraine und die wachsenden Spannungen zwischen den Großmächten USA und China haben jedoch den Blick auf geopolitische Machtverschiebungen geschärft. Diese von geopolitischen Faktoren getriebenen Entwicklungen stellen insbesondere für das bewährte Modell der exportorientierten deutschen Unternehmen eine existenzielle Bedrohung dar, da sie stark in globale Wertschöpfungsketten und offene Märkte integriert sind. Es ist daher nicht überraschend, dass geopolitische Risiken laut dem 26. PwC Global CEO Survey bei deutschen CEOs (insbesondere bei Großunternehmen) auf Platz zwei der Risikoagenda gerückt sind, direkt hinter dem Risiko der Inflation.
(Quelle: PwC 2023)
Ein gesteigertes Risikobewusstsein erfordert zwangsläufig ein fundiertes Verständnis geopolitischer Entwicklungen sowie die Ableitung konkreter unternehmerischer Maßnahmen. Dies stellt eine erhebliche Herausforderung dar, insbesondere für kleinere Mittelständler mit begrenzten personellen und organisatorischen Ressourcen. Es gilt, die Komplexität der aktuellen geopolitischen Veränderungen zu erfassen und sämtliche relevanten Auswirkungen auf die eigene Geschäftstätigkeit richtig einzuschätzen.
Es steht außer Frage: Unternehmen müssen sich zukünftig systematisch mit dem Management geopolitischer Risiken auseinandersetzen und Anpassungsstrategien entwickeln. Nur so können sie ihre Wettbewerbsfähigkeit und langfristige Zukunftsfähigkeit nachhaltig sichern.
Autor: Dirk Müller VBU-Partner in Shanghai / China
(MBA Strategic Marketing APAC Region; Dipl.-Pol. International Relations)
Als Berater für Strategie und strategisches Marketing unterstützt er kleine und mittelständische Unternehmen auf ihrem Weg nach China und in China erfolgreich zu sein: durch Trend- und Marktanalysen, Strategieentwicklung, Projektunterstützung, interkulturelle Kompetenz und ein breites China-Servicenetzwerk vor Ort.
FN:
(1) Francis Fukuyama: The End of History? The National Interest No. 16 (Summer 1989).
(2) Amitav Acharya: After Liberal Hegemony: The Advent of a Multiplex World Order. Ethics & International Affairs 31 (3).
(3) Thomas Jaeger: Multipolar? Was die Neue Weltordnung wirklich für uns und Europa bedeutet. Focus Online: https://www.focus.de/experts/deutschland-multipolar-was-die-neue-weltordnung-fuer-uns-bedeutet_id_196999161.html
Quellen und Literatur:
Steven A. Altman, Caroline R. Bastian: DHL GLOBAL CONNECTEDNESS INDEX 2022, 02/2023.
Amitav Acharya: After Liberal Hegemony: The Advent of a Multiplex World Order. Ethics & International Affairs 31 (3).
Achim Berg: Wirtschaftsschutz 2022, Bitkom, 08/2022.
Marisol Berrios-Silletti, Christopher Tower: Action Required - Sustainability and ESG-RelatedRegulations Are on the Rise Globally, BDO USA 02/2023.
Ian Bremmer: The Next Global Superpower Isn’t Who You Think, FP 06/2023.
Francis Fukuyama: The End of History? The National Interest No. 16 (Summer 1989).
Pinelopi K. Goldberg, Tristan Reed: Is the Global Economy Deglobalizing? And if so, why? And what is next?” BPEA Conference Draft, Spring 2023.
Friedhelm Hengsbach: "Globalisierung" - eine wirtschaftsethische Reflexion, APuZ, B 33-34/2000.
Douglas A. Irwin: Globalization is in retreat for the first time since the Second World War (PIIE) 10/2022.
Thomas Jaeger: Multipolar? Was die Neue Weltordnung wirklich für uns und Europa bedeutet. Focus Online:
https://www.focus.de/experts/deutschland-multipolar-was-die-neue-weltordnung-fuer-uns-bedeutet_id_196999161.html
Scott Lincicome: Globalization Isn’t Going Anywhere, CATO Institute Publications, 09/2023.
Anna Marie Obermeier, Siri Aas Rustad: Conflict Trends: A Global Overview, 1946–2022, PRIO Paper 2023.
Michael Wolf, Ira Kalish: Supply chain resilience in the face of geopolitical risks, Deloitte Insights, 12/2021.
EY: 2023 Geostrategic Outlook 12/2022.
ICC: ICC 2023 Trade report: A fragmenting world.
IMF Blog: The High Cost of Global Economic Fragmentation, 08/2023.
PwC: 26. PwC Global CEO Survey.
WTW: 2023 Global Supply Chain Risk Report.
Titelfoto Dirk Müller
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