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Die B2C Online Customer Journey in China - So anders als im Westen

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China ist heute der größte E-Commerce-Markt der Welt. Nirgendwo sonst wird so selbstverständlich, so häufig und so vielfältig online eingekauft. Ob Alltagsprodukte, Luxusgüter oder Dienstleistungen – für chinesische Konsumenten ist der digitale Handel längst der bevorzugte Weg. Die klassischen Phasen der Customer Journey – Bewusstsein (Awareness), Interesse (Interest), Überlegung (Consideration), Entscheidung (Decision/Action) und Bindung (Retention/Loyalty) – gelten auch hier. Doch wie Konsumenten diese Phasen tatsächlich erleben, unterscheidet sich fundamental zwischen China und westlichen Märkten. Ursache sind weniger die Modelle selbst als vielmehr die kulturellen Prägungen, Verhaltensmuster und digitalen Infrastrukturen, in denen Kaufentscheidungen stattfinden. Wer die Unterschiede verstehen will, muss von der abstrakten Logik zur gelebten Praxis blicken.

 

Digitale Ökosysteme: Super-Apps als Nervenzentrum

Chinas digitale Welt basiert auf dem Modell der Super-Apps. Eine einzelne App vereint Kommunikation, Shopping, Bezahlung und Services in einem durchgängigen Ökosystem. WeChat ist das prominenteste Beispiel. Ursprünglich als Messenger gestartet, ist es heute weit mehr als eine Kommunikationsplattform. Mit über einer Milliarde aktiven Nutzern ist es zu einem Alltagsbetriebssystem geworden: Chat, Social Media, mobile Bezahlung, Mini-Programme, E-Commerce, Gaming und sogar Behördendienste sind in ein einziges Ökosystem integriert.

 

What Is a Super App? Reasons for Success in 2025 (Emerline) 

 

Ähnlich hat sich Alipay von einer reinen Zahlungs-App zu einer umfassenden Finanzplattform entwickelt, die Versicherungen, Kredite, Investments und Shopping-Integrationen anbietet. Douyin (das chinesische TikTok), verbindet Unterhaltung, Inspiration und Kauf in Echtzeit. Nutzer können ein Produkt in einem Video entdecken, sich direkt mit anderen austauschen, Bewertungen einholen und es im selben Feed erwerben.

Diese Plattformen sind nicht nur Werkzeuge, sondern digitale Lebensräume. Für Konsumenten bedeutet das: keine Medienbrüche, keine umständlichen Plattformwechsel. Für Marken bedeutet es: die Möglichkeit, die komplette Journey von Awareness bis Retention in einem einzigen System zu steuern.

B2C Online Customer Journey

 

Im Westen dagegen bleibt der digitale Raum fragmentiert und verläuft über eine Vielzahl voneinander getrennter Touchpoints. Die Suche beginnt häufig bei Google, Aufmerksamkeit wird über Facebook oder Instagram generiert, die eigentliche Transaktion findet auf Amazon oder spezialisierten Shops statt. Jede Phase liegt auf einer separaten Plattform, die nur begrenzt Daten teilt. Der Kunde muss springen – und jedes Mal besteht die Gefahr, ihn auf dem Weg zu verlieren. Für Marken bedeutet dies höhere Komplexität in der Steuerung der Journeys sowie deutlich erhöhte Kosten für kanalübergreifende Kampagnen und Retargeting.

Wester Chinese Online Customer Journey

 

KI als Treiber

 

Ein wesentlicher Erfolgsfaktor der chinesischen Plattformen ist der massive Einsatz von Künstlicher Intelligenz. Während im Westen Personalisierung oft auf vergangene Käufe oder Newsletter-Segmente beschränkt bleibt, läuft in China Hyper-Personalisierung in Echtzeit.

  • Douyin analysiert kontinuierlich das Konsumverhalten: welche Videos angeschaut werden, wie lange die Verweildauer ist, ob auf Kommentare reagiert wird. Daraus entstehen dynamische Feeds, in denen relevante Produkte und Livestreams sekundengenau vorgeschlagen werden.
  • JD.com bietet KI-gestützte Chatbots, die Fragen beantworten, Produkte vergleichen und mithilfe von Bilderkennung ähnliche Artikel finden.

Alipay integriert Zahlungsdaten, Konsumhistorien und Finanzverhalten, sodass Marken in Echtzeit Zielgruppen segmentieren und passgenaue Kampagnen ausspielen können.

 

AI B2C Table

 

Konsumverhalten: mobil, sozial, impulsiv

 

Das chinesische Konsumverhalten ist untrennbar mit dem Smartphone verknüpft. Über 70 Prozent aller Onlinekäufe werden mobil getätigt – „mobile-first“ ist längst „mobile-only“. Webseiten, Newsletter oder Desktop-Einkäufe spielen eine untergeordnete Rolle.

 

Mobile Marketing in China (eToc) 

 

Markenentdeckung geschieht organisch über algorithmisch gesteuerte Feeds, virales Content-Marketing oder den Auftritt von Influencern. Kurzvideos und Livestreams sind die dominanten Formate. Kaufentscheidungen entstehen oft situativ – beeinflusst durch Peer-to-Peer-Empfehlungen, durch Limited-Time-Offers oder kollektive Sales-Events wie den Singles’ Day am 11. November. Dieser Tag ist längst mehr als ein Shopping-Event – er ist ein kulturelles Phänomen, das kollektiven Konsumdruck erzeugt.

 

Im Westen verläuft die Customer Journey langsamer und kontrollierter. Der Kaufprozess beginnt häufig mit einer Google-Suche oder einer gezielten Recherche auf Preisvergleichsportalen. Reviews auf unabhängigen Plattformen und institutionelles Vertrauen (Verbraucherschutz, Rückgaberechte) spielen eine zentrale Rolle. Kaufentscheidungen sind stärker rational fundiert, weniger impulsiv.





Vertrauen: Gemeinschaft versus Institutionen

Einer der größten Unterschiede zwischen China und dem Westen liegt in der Frage: Woher kommt das Käufer-Vertrauen?

In China spielt soziale Bestätigung eine zentrale Rolle. Konsumenten verlassen sich stark auf Empfehlungen von Key Opinion Leaders (KOLs/Celebrity KOLs) und Key Opinion Consumers (KOCs). Vertrauen wird über Interaktion, Nähe und Community aufgebaut. Schon bevor eine Kaufabsicht besteht, folgen Nutzer Influencern, beobachten deren Produktbewertungen und lassen sich inspirieren. Studien zeigen, dass bis zu 75 Prozent der chinesischen Konsumenten bereits aufgrund solcher Empfehlungen gekauft haben.

What is KOC and KOL Marketing in China? (InfluChina)

Im Westen dagegen basiert Vertrauen auf institutionellen Rahmenbedingungen: Markenreputation, Verbraucherrechte, Rückgabegarantie und unabhängige Bewertungen. Influencer sind hier wichtig, aber vor allem zur Awareness-Bildung; sie ersetzen nicht die Rationalisierung und Prüfung durch den Konsumenten selbst.

 

Livestreaming 

In China sind Livestreams - auch mit KOLs & KOCs - längst ein zentraler Bestandteil des Onlinehandels. Auf Plattformen wie Douyin wurden 2024 über 290 Milliarden US-Dollar Umsatz allein über Livestream-Commerce generiert.

Pic Livestream

 

Hier verschmelzen Produktpräsentationen, Interaktion und Kauf in Echtzeit. Verbraucher können Fragen stellen, Produkte direkt ausprobieren lassen und mit einem Klick kaufen. Livestreams sind damit weit mehr als ein Verkaufskanal, sie schaffen Vertrauen in die Produktqualität, Authentizität und Dringlichkeit. Gerade für neue Anbieter bietet Livestreaming zudem eine Chance, schnell Sichtbarkeit zu gewinnen und Umsätze zu generieren, ohne sich mühsam über klassische Kanäle etablieren zu müssen.

Im Westen ist Livestreaming zwar im Kommen, steckt aber noch in den Anfängen. Dort wird es eher als Marketing-Experiment betrachtet, noch nicht als zentrales Element der Customer Journey.

 

E-Commerce: Amazon vs. Alibaba & Co.

Im Westen ist Amazon die dominierende Plattform. Sie bietet ein rationalisiertes, effizientes Einkaufserlebnis, das Auswahl, Bequemlichkeit und schnelle Lieferung in den Vordergrund stellt. Die Plattform ist primär transaktional, eine „Einkaufsmaschine“.

In China dominieren Alibaba (Taobao, Tmall), JD.com und Pinduoduo. Sie verbinden Commerce mit Social Features, Entertainment und Finanz-/Bezahlsystemen. Pinduoduo hat mit seinem gruppenbasierten Kaufmodell das soziale Element nochmals verstärkt und kollektives Shopping populär gemacht. Hier geht es nicht nur um den Kauf selbst, sondern um das Erlebnis, die Interaktion und den sozialen Kontext.

 

Post-Sales: Service & Loyalität

Nach dem Kauf setzen sich die Unterschiede fort. In China erwarten Konsumenten sofortigen Support und bekommen ihn auch. Service-Chats sind in denselben Plattformen integriert, in denen gekauft und bezahlt wird. WeChat dient oft als zentrale Schnittstelle; ein Klick, und der Kunde ist im direkten Dialog mit der Marke.

Im Westen sind Support-Systeme fragmentierter. E-Mail, Telefon oder externe Tools, verbunden mit Wartezeiten und Brüchen im Nutzererlebnis.

Auch Loyalität wird unterschiedlich gedacht. Während westliche Anbieter vor allem auf klassische Treueprogramme mit Punkten, Rabatten oder Prämien setzen, ist Loyalität in China ein kontinuierlicher Beziehungsprozess. Brands schaffen Zugehörigkeit, Status und Relevanz durch vielfältige Touchpoints, personalisierte Angebote, Community-Features und kulturelle Sensibilität. Wer Loyalität gewinnen will, muss nicht nur verkaufen, sondern permanent Wert liefern. Marken nutzen Social-CRM, verschmelzen Daten aus E-Commerce, WeChat, Mini-Programmen und Social-Media zu einem 360-Grad-Bild und kommunizieren hochgradig personalisiert in Echtzeit.

 

Click and Brick - Customer Experience Management

China gilt heute als einer der innovativsten Märkte, wenn es um die strategische Integration von online (Click) und stationärem Handel (Brick) geht. Während in vielen westlichen Ländern E-Commerce und stationäre Geschäfte oft noch in Konkurrenz zueinanderstehen, hat sich in China ein Modell etabliert, das digitale und physische Touchpoints miteinander verknüpft, um ein ganzheitliches Kundenerlebnis zu schaffen. Dieses Modell wird vor allem von großen Plattformen wie Alibaba, JD.com oder Pinduoduo geprägt, die Online-Marktplätze mit innovativen Offline-Erlebnissen kombinieren. Mit Konzepten wie Alibabas Hema-Supermärkten (Freshippo) wurden ein Modelle geschaffen, die digitale und physische Touchpoints nahtlos verbinden. Kunden können im Laden einkaufen, Produkte über QR-Codes scannen, mobil bezahlen und sich ihre Waren innerhalb von 30 Minuten liefern lassen.

Pic Customer Experience Management

 

Das Besondere am chinesischen Click-and-Brick-Ansatz ist die konsequente Ausrichtung auf das Customer Experience Management. Kunden erwarten keinen Bruch mehr zwischen digital und analog. Besonders junge Chinesischen suchen nicht nur nach Produkten, sondern nach Erlebnissen. Offline-Stores sind daher oft als Showroom, Eventfläche oder Lifestyle-Treffpunkt gestaltet. Pop-up-Stores, AR/VR-Erlebnisse oder Live-Streaming im Laden sind gängige Praxis. Im Westen dagegen stehen Online- und Offline-Handel oft noch stärker in Konkurrenz zueinander. Omnichannel-Strategien existieren, sind aber weniger tief integriert.

 

Fazit

Die B2C-Customer Journey in China und im Westen ist mehr als eine Variation desselben Modells. Sie repräsentiert zwei unterschiedliche Philosophien des Handels.

  • Der Westen setzt auf Transaktionalität: Effizienz, Auswahl und individuelle Entscheidungsfreiheit.
  • China setzt auf Beziehung und Integration: Social Media, Content und Commerce verschmelzen zu einem einzigen Erlebnis, das Konsumenten emotional bindet.

Für westliche Marken bedeutet das: Erfolg in China erfordert mehr als die bloße Übertragung bestehender Strategien. Notwendig ist ein Markt-spezifischer Ansatz, der mobil, app-zentriert und tief in die lokalen Plattformen eingebettet ist. Vertrauen entsteht hier nicht institutionell, sondern sozial, durch KOLs, KOCs, Communities und kontinuierliche Interaktion.

China zeigt damit nicht nur eine andere digitale Realität, sondern auch einen möglichen Blick in die Zukunft des globalen E-Commerce. Eine Zukunft, in der Kommunikation, Unterhaltung und Konsum untrennbar miteinander verbunden sind und in der die Customer Journey nicht als linearer Prozess, sondern als ganzheitliches Erlebnis verstanden wird.

 

Pic Spotlight B2C

Einen vertiefenden Einblick in die Welt des Chinesischen Internets, online Marketings und E-Commerce bieten diese Reports und Insights:

 

Autor: Dirk Müller VBU Partner in Shanghai

 



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